Was ist die Bunkai und was hat die eigentlich mit Karate zu tun? Man kann die meisten Karateschüler, die regelmäßig an Wettkämpfen teilnehmen, allerdings auch viele von denen, die es nicht tun, grob in zwei Gruppen einteilen: Die Kumite-Lover und die Kata-Nerds. Ich selbst gehöre definitiv zu letzteren. Erstere stellen oft eine Frage, die sich alle mal stellen sollten:
Wofür ist die Kata eigentlich gut?
Und hier die 100-Pfennig-Masterantwort: Für die Selbstverteidigung auf der Straße!
„Ja, wie jetzt?? Die lassen mich doch nicht in Ruhe, nur weil ich denen ne Kata zeige!“
Richtig. Karate-Kid-meets-Powerranger-bin-so-toll-Posing bringt auf der Straße herzlich wenig.

Will man nun also mit Hilfe von Kata lernen, sich auf der Straße zu verteidigen, braucht man etwas mehr. Etwas, das die Inhalte der Kata aus dem Vorführ-sieht-gut-aus-Style in nützliche, effiziente Selbstverteidigungstechniken überträgt. Dieses Prinzip steckt hinter dem weit verbreiteten Glauben, es gäbe eine Art „geheimes Wissen“ im Karate. Es gibt es, aber man muss das Wissen nicht finden, um es zu kennen. Man braucht nur den Schlüssel, um es aus jeder Kata selbst erschließen zu können und geheim ist das auch nicht.
Das Prinzip heißt „Bunkai“ (jap. 分解 – Zerlegung), die Übersetzung der Kata in effektive Techniken. Und der Schlüssel dazu heißt: Intensives Training, vor allem Kihon.
Kihon?? Is‘ nich‘ wahr!
Is‘ doch wahr! Griffe, Würfe, Hebel, Grappling, auch diese Techniken zählen zur Grundschule des Karate, zum Kihon. Wer sie lernt, übt und regelmäßig trainiert, wird schnell ihre Prinzipien in jeder Kata wiederfinden können. Nun fehlt nur noch etwas Bunkai-Training, in dem man die gängigsten Techniken übersetzen lernt. Zum Beispiel ist ein Gedan-Barai in Kata fast immer ein Wurf. Alles umrühren und schon sieht man jede traditionelle (also nicht zur reinen Show entworfene) Kata als Lehrbuch für Selbstverteidigung.
Alles klar, wenn mich also jemand mit einem Mawashi-Geri angreift, dann…
…immer ans Drehbuch halten! Angriffe auf offener Straße mit typischen Karate-like-Techniken gibt’s nämlich nur im Film.
Kata beinhaltet Prinzipien zur Verteidigung gegen Angriffe durch üble Gestalten, die in der Regel keine Kampfkunst-Ausbildung durchlaufen haben, denn Kampfkünstler sind in aller Regel charakterlich und geistig so gefestigt, dass sie nicht zu Straßenschlägern, Räubern und dergleichen werden. Verteidigung gegen Kampfkünstler lernt man im Kumite.
Bunkai ist in 2 bis 3 Stufen gegliedert. Der zweistufige Aufbau unterscheidet in Omote und Okuden, der dreistufige unterteilt Okuden noch einmal in Ura und Honto Bunkai.
So viel Bunkai? Geht das auch auf Deutsch?
Natürlich, bitte sehr:
Die erste Stufe, die beiden Varianten gemeinsam ist, wird „Omote Bunkai“ genannt.
Omote (面) bedeutet „Oberfläche“. Omote Bunkai ist demnach die oberflächliche Zerlegung der Kata. Ganz nach dem Motto „What you see is what you get.“ ist die oberflächliche Zerlegung einer Kata die Anwendung der gezeigten Techniken gegen Karate-Angriffe. In manchem Schulen wird für Prüfungen auch eine Bunkai-Vorführung zur Verteidigung gegen stiltypische Angriffe gefordert. Hierfür wird die Omote Bunkai herangezogen.
Nachdem wir nun aber wissen, dass uns auf der Straße kaum ein Karate-Ka angreifen dürfte, stellt sich natürlich die Frage, wozu das Ganze, wofür ist Omote Bunkai gut?
Hauptsächlich wird sie dazu verwendet, die Kata selbst besser zu verinnerlichen. Ihre Abläufe besser zu verstehen. Wer die Karate-Seite der Bunkai versteht, kann eine Kata lebendig machen, kann sich in ihr viel wohler fühlen und braucht nicht jeden Schritt im Voraus zu durchdenken. Omote Bunkai stellt damit auch die Basis für das Bunkai-Studium dar, denn es schafft eine Grundlage, mit der man sich in der Kata frei bewegen und die Prinzipien der höheren Bunkai-Stufen lernen und auf die Kata anwenden kann, ohne sie jedes Mal erst bis zu dem Punkt durchlaufen zu müssen, an dem man gerade arbeitet.
Die zweite Stufe der Zwei-Stufen-Variante nennt man „Okuden Bunkai„.
Okuden (奥伝) bedeutet „Weitergabe des Verborgenen“. Die Okuden Bunkai gibt also das weiter, was in der Kata verschlüsselt ist. Hierzu zählen vor allem die Prinzipien, um sich gegen verschiedene unbewaffnete und bewaffnete Angriffe zu verteidigen. Da man für das Erlernen der verborgenen oder verschlüsselten Prinzipien der Kata eine gewisse Grundausbildung der Technik voraussetzt, sagt man allgemein, Okuden lernt man ab Erreichen des Schwarzgurts. Daher kommt die Aussage, mit dem 1. Dan beginne man erst, Karate zu lernen. In den Jahren bis zum Dangrad erlernt man die Techniken. Das Kihon, das man dann zur Kata zusammensetzt. „Dan“ bedeutet übrigens „Stufe“, wer also den ersten Dan hat, ist kein Meister, sondern Schüler auf der ersten Stufe.
Bunkai heißt auch, dass man nicht erst mit dem Schwarzgurt lernt, sich zu wehren
Das wäre ja ziemlich effektlos, erstmal jahrelang lernen zu müssen, ehe man überhaupt irgendwas kann. Selbstverteidigung lernt man in guten Dōjōs von Anfang an. Bis zum Erreichen des Schwarzgurts sollte man dann soweit sein, dass man selbst in der Lage ist, aus verschiedenen Kata weitere Selbstverteidigungsmethoden zu entschlüsseln und sein bisher erlerntes Wissen zu erweitern und zu vertiefen. Während man in der Anfangszeit die Methoden vom Sensei gezeigt und erklärt bekommt, ist Okuden das Stadium, in dem man dann selbst in der Lage ist, basierend auf seinem eigenen Wissen neue Techniken und Prinzipien zu entschlüsseln, zu erlernen und weiterzugeben.
Die dreistufige Variante teilt Okuden noch einmal in zwei weitere Stufen auf:
Die zweite von drei Stufen nennt man hierbei „Ura Bunkai„.
Ura (裏) bedeutet „rückwärts„. Ura Bunkai ist quasi das „Reverse Engineering“ der Bunkai. Man kennt die Kata und versucht, durch das, was man bisher gelernt hat, darauf Rückschlüsse zu ziehen, was in dieser Kata verborgen ist. Diese Methode ist der Tatsache geschuldet, dass die großen Meister des Karate es wohl vergaßen, aufzuschreiben, welche Techniken und Prinzipien sie in ihre Kata einfließen ließen. Daher versucht man heute, einerseits dem Zeitgeist entsprechend effektive Techniken aus den Kata zu ziehen, andererseits der Tradition entsprechend so nah wie möglich an die ursprünglichen Ideen der Erfinder heranzukommen. Dies ist nur oberflächlich gesehen ein Widerspruch. Denn ob der Gegner nun mit einem Katana oder einem Baseballschläger angreift, in beiden Fällen sollte man nicht den Arm in den Weg halten.

Die dritte und letzte Stufe heißt „Honto Bunkai„.
Honto (ほんと) bedeutet „wirklich„. Und genau das ist die Honto Bunkai: „The real deal“, das, was sich der Erfinder wirklich gedacht hat, als er die Kata entwickelte. Nun ist das vorgenannte Problem noch immer nicht behoben, die wahren Hintergründe der meisten Kata sind im letzten Jahrhundert verlorengegangen, als Karate für Schulen und Militärs massentauglich gemacht wurde und die Uchi-Deshi, die persönlichen Schüler der Großmeister, nach und nach verschwanden. Das Prinzip der Honto Bunkai wird dennoch nicht ganz fallen gelassen, da es doch immer wieder vorkommt, dass die Bunkai-Forschung in Japan, hauptsächlich natürlich in Okinawa, auf Nachfahren großer Meister oder deren Schüler trifft, die noch das Wissen um die wahren Inhalte der Kata bewahrt haben.
Hier haben wir nun also die Antwort für die Kumite-Liebhaber, wozu Kata eigentlich gut ist:
Um daraus Prinzipien und Techniken zu erlernen, die einem in einer echten Bedrohung hilfreiche Methoden der Selbstverteidigung liefern.
Abgesehen von Bunkai ist das häufigste Wort hier „Prinzipien“, warum lernt man sowas und nicht konkrete Techniken?
Weil Karate nicht statisch ist.
Wenn man lernt, einen Schwinger mit dem rechten Arm zuverlässig abzuwehren und zu kontern, man auf der Straße aber plötzlich von einem Linkshänder angegriffen wird, möchte man schließlich in der Lage sein, sich auch dagegen zu verteidigen. Deshalb beinhalten die meisten Kata eine Technik selten nur mit einer Seite. Ziel des Bunkai-Trainings soll kein stures Auswendiglernen sein. Ziel ist, die Freiheit zu erlangen, flexibel durch die Techniken zu wechseln. Sich jeder Situation anzupassen. Letztlich lernen wir jahrelang die Karate-Techniken, um sie am Ende einfach loszulassen.
Kara Te, die leere Hand, durch nichts eingeschränkt, durch nichts blockiert, frei, wie fließendes Wasser. Karate-Dō ist kein Stillstand, es ist ein Weg. Und ein Weg will beschritten werden, nicht plattgestanden. Wie steht Ihr zu Kata? Hat sich Eure Meinung nach diesem Artikel geändert? Wenn ja, wie?
Schreibt’s mir in die Kommentare, schreibt Eure Fragen, Hinweise, Ansichten. Wir können alle nur voneinander lernen!