Pinan Kata

Wer fleißig Kata lernt, dem wird bei der einen oder anderen neuen Kata sowas rausrutschen, wie: „Das ist ja, wie in der Pinan/Heian-<soundso>dan!“ In der Tat gibt es viele Kata, in denen sich einige Elemente ähneln. Teilweise ganze Passagen scheinen aus anderen (oder in anderen) Kata recycled worden zu sein.

Wer sich gerade auf die Danprüfung vorbereitet, kommt um diese Erkenntnis in der Kosokun-Dai/Kanku-Dai nicht herum. Sie sieht nämlich gleich zweimal gefährlich nach Pinan-Shodan/Heian-Nidan aus. An weiteren Stellen scheint sie Teile der Pinan/Heian-Yondan zu haben. Und auch die Pinan/Heian-Godan hat sich mit eingeschlichen. Überhaupt scheinen alle Pinan/Heian-Kata irgendwo in der Kosokun/Kanku-Dai mit eingebaut worden zu sein.

Was ist da los? Waren die Meister alle ziemlich einfallslos und haben voneinander abgeguckt? Oder ist das Recycling auf japanisch? Einfallslos waren unsere großen Meister mit Sicherheit nicht, aber Recycling trifft es in der Tat schon ganz gut.

Die Familie Pinan

Werfen wir mal einen Blick auf die Kata. Wenn man sich die heutigen Kata anschaut, stellt man schnell fest, dass sich viele von ihnen in einige Kata-Familien einsortieren lassen. Also Kata, die zusammen gehören.

„Ja, klar, da stehen dann Nummern dahinter, Shodan, Nidan, Sandan und so weiter.“

Auch, aber nicht nur. Zur selben Familie, wie die Pinan/Heian-Kata gehören die Kus(h)anku/Kosokun/Kanku-Kata, die Chintō/Gankaku und weitere. Schon verwirrt? Nennen wir die Familie mal Pinan. Dort trifft sich nämlich ihr Stammbaum. In diese Pinan-Familie gehören auch Kata mit so tollen Namen, wie Tai Sabaki Shodan, Taikyoku und Fukyugata. Jetzt verwirrt? Geht doch! Um das Ganze jetzt langsam zu entwirren, begeben wir uns zunächst ins alte China.

Halt, sitzen bleiben! Nur gedanklich natürlich!

Die Kata-Forschung ist sich noch nicht ganz einig. Jedoch haben die Recherchen bisher einen relativ wahrscheinlichen geschichtlichen Ablauf ergeben. Die verschiedenen Ergebnisse und Erkenntnisse der Schulen versuche ich jetzt mal, unter einen Hut zu bringen. Basteln wir mal eine Story draus.

Kusanku betritt die Bühne

Ungefähr im Jahr 1670 kam in der Fukien-Provinz in China ein Junge namens Kwang Shang Fu zur Welt. Dieser lernte später bei einem Shaolin-Mönch die Kunst des Chuan’Fa. Das ist das chinesische Boxen des Weißen Kranichs. Ungefähr 1756, wahrscheinlich noch etwas früher, schickte man ihn als Botschafter der Qing-Dynastie nach Okinawa. Dort wurde er unter dem Namen Kusanku/Kushanku bekannt. Er lebte in dem Dorf Kanemura in der Nähe der Stadt Naha. In seiner Zeit in Okinawa gab er seine Kunst an seine Schüler weiter. Unter denen befanden sich auch Chatan Yara und Sakugawa Kanga. Kusanku starb im Jahr 1762.

Wandbild mit chinesischen Gesandten im Königreich Ryukyu. Man nimmt an, dass diese auch die späteren Pinan Kata nach Okinawa brauchten.
Chinesische Gesandte im Königreich Ryukyu (heute Okinawa)

Chatan Yara tritt auf

Im Jahr 1668 kam Yara Guwa im Dorf Chatan bei der Stadt Shuri auf Okinawa zur Welt. Das ist der, der später als Chatan Yara bekannt wurde. Als Spross einer Adelsfamilie schickte ihn seine Familie im Alter von 12 Jahren nach China. Dort sollte er die Sprache und die Kampfkünste zu lernen. Sein Meister hieß Wong Chung-Yoh. Nach 20 Jahren kehrte er nach Shuri zurück und wurde Zeuge, wie ein Samurai eine Frau bedrängte. Nachdem er diesen getötet hat, rekrutierte ihn die Lokalverwaltung als Lehrer, um seine Künste für die Selbstverteidigung der Bevölkerung weiterzugeben. Einer seiner Schüler war Takahara Peichin, einer der ersten, die den Do, den Weg als Philosophie erklärten. Im hohen Alter lernte er Kusanku kennen, von dem er noch lernte, ehe er verstarb. Er gab seine eigenen Künste ebenfalls an Kusanku weiter, der sie seinen Schülern mitgab.

Sakugawa Kanga in the house

1733 kam im Dorf Akata, das ebenfalls zu Shuri gehörte, Sakugawa Kanga zur Welt. Ab 1750 lernte er Te unter Takahara Peichin und Chatan Yara. Sechs Jahre später legte Takahara ihm nahe, zur Vervollkommnung seiner Kunst bei Kusanku Chuan’Fa zu lernen. Dort traf Sakugawa seinen alten Meister Chatan Yara wieder. Auch unter Kusanku lernte Sakugawa 6 Jahre bis zu Kusankus Tod im Jahr 1762.

Nach dessen Tod entwickelte er die Kata Kusanku, die er zu Ehren seines Meisters nach diesem benannte. Es ist nicht ganz eindeutig nachweisbar, ob er die Chatan Yara Kusanku parallel dazu entwickelte oder ob es dieselbe Kata ist. Klar ist, dass etwa in der Mitte der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts die Wurzeln der Kus(h)anku/Kosokun/Kanku-Kata liegen: Dai, Sho, Chatan Yara und Shiho. Wir nehmen an, dass die Kusanku-Dai und die Chatan Yara Kusanku von Sakugawa selbst entwickelt wurden. Die Kusanku-Sho kann bisher nicht eindeutig einem Erschaffer zugeordnet werden. Die Shiho Kosokun stammt wahrscheinlich von Mabuni Kenwa.

Manchmal muss es eben einfach etwas trockene Geschichte sein, um alle Zusammenhänge zu sehen. Den Stammbaum der Kusanku-Kata sind wir nun also hochgeklettert. Unterwegs treffen wir jetzt noch auf Sakugawas Schüler Matsumura „Bushi“ Sokon und dessen Schüler Anko Itosu. Bei diesen beiden trifft sich der Stammbaum schließlich mit seinem anderen Zweig.

Dieser andere Zweig könnte eher als Busch durchgehen. Warum? Weil die Geschichte auf dieser Seite lange nicht so klar ist, wie die Geschichte der Kusanku. Die Rede ist hier von der „Mutter der Pinan“, der Channan.

„Bushi“ Matsumura Sokon vs. Chiang Nan / Channan

Chiang Nan war der Legende zufolge ein chinesischer Seemann. Um die Jahrhundertwende des 18. zum 19. Jahrhundert erlitt er vor der Küste Okinawas einen Schiffbruch. Gerade so konnte er sich an Land schleppen. Er versteckte sich in einer Höhle in der Nähe der Stadt Tomari. In dieser Zeit ernährte er sich durch Diebstahl in den umliegenden Dörfern. Matsumura Sokon war Polizeihauptmann in Tomari und Träger des Ehrentitels „Bushi“. Er erhielt den Auftrag, den Störenfried unschädlich zu machen.

Werfen wir mal einen Blick auf die Ausgangslage dieses Kampfes:

"Bushi" Matsumura Sokon

Der Heimspieler, ein erfahrener, schlagerprobter und hochdekorierter Polizeihauptmann mit allen Waffen, die die damalige Zeit an modernem Kampfgerät zu bieten hat.

Der Gastspieler, ein gestrandeter, heruntergekommener und ausgehungerter Seemann und Dieb, Bewaffnung wenn überhaupt, dann ein Stock.

Klare Sache, da kann es nur einen Sieger gegeben haben? Typischer Fall von „Denkste“!

Trotz Aufbietung all seiner Fähigkeiten und seines Waffenarsenals, mit dem er einen Samurai eingeschüchtert hätte, gelang es Matsumura nicht, Chiang Nan zu besiegen. Als ihm klar wurde, dass sie sich in dieser Situation ebenbürtig waren, in einem unbewaffneten Kampf also das vermeintlich unterlegene Treibgut für Matsumura unbesiegbar gewesen wäre, legte letzterer die Waffen nieder und bat Chiang Nan, ihn seine Kunst zu lehren.

Chiang Nan – von Matsumura, dessen Zunge etwas unerfahren mit chinesisch war, Channan genannt – unterwies Matsumura im Kung Fu des südlichen Flusses. Das geballte Wissen wurde in einer Kata verpackt, die Matsumura auch an seine Schüler weitergab.

Anko Itosu hat seinen großen Auftritt – die Ping’An (Pinan) entsteht

Itosu Anko, der Vater des modernen Karate

Auch der als „Vater des modernen Karate“ geltende Anko Itosu lernte diese Kata. Die Forschung kann bisher nicht eindeutig sagen, wer ihr den Namen Channan gab, Matsumura oder Itosu. Allerdings lässt sich vermuten, dass nach der Matsumura Bassai und der Kusanku nun Channan an der Reihe war. Dass also die Kata ihm zu Ehren so genannt wurde. Weiterhin wird vermutet, dass Chiang Nan selbst diese Kata nach ihrer Herkunft Ping’An nannte.

Die Geschichte wird hier sehr verschwommen. Es lässt sich nicht sagen, wann genau die Channan zur Pinan wurde. Was wir wissen ist, dass Motobu Choki, der Begründer des Motobu-Ryu-Stils, von Itosu die Channan erlernte. Eines Tages bekam er bei einem Treffen mit seinem alten Meister von dessen Schülern die Channan vorgeführt. Zu dieser sagte er, dass sie anders sei, als er sie kannte. Daraufhin erfuhr er, dass sie weiterentwickelt worden sei und nun Pinan hieß.

Sollte sich da jetzt nicht was treffen? Hat es, still und heimlich.

Von Anko Itosu wissen wir, dass er sowohl die Kushanku, als auch die Channan gelernt hat. Das war für damalige Verhältnisse erstaunlich. Denn es wurde ursprünglich nur eine Kata vermittelt, die das gesamte Wissen einer Schule enthielt. Die Suparimpei ist noch ein Relikt aus dieser Zeit, weswegen sie so lang ist. Alle historischen Kata, wie eben auch die originale Kushanku oder die Neipai, der Vorgänger der Nipaipo, waren ähnlich lang. So auch die Channan.

Von Anko Itosu zu Funakoshi Gichin – aus Pinan wird Heian

Funakoshi Gichin, Begründer des Shotokan Karate

Auch Itosu hatte noch den Drang, sein Wissen in einer Kata zu vereinen. So geschah es nun, dass er aus den beiden großen Kata Channan und Kushanku eine neue entwickelte, die die Quintessenzen ihrer beiden Eltern in sich trug. Die Pinan. Hier ist die Vermutung naheliegend, dass der Name gewählt wurde, da beide Vorläufer, die Kushanku und die Channan, ihre Wurzeln in Südchina haben. In der Gegend um Ping’An. Ping’An, auf Okinawa Pinan ausgesprochen, bedeutet „Frieden und Ruhe“. Diese Bedeutung wollte Funakoshi Gichin, der Begründer des Shotokan, beibehalten, als er die Pinan-Kata ins Japanische zu Heian übersetzte.

Die Geschichte berichtet über einen chinesischen Seefahrer namens Chinto. Dieser suchte ebenfalls schiffbrüchig in der Gegend um Tomari in einer Höhle Unterschlupf und wurde zu einem Polizei-Lehrer. Die Ähnlichkeit hier lässt den Schluss zu, dass Chinto und Chiang Nan wahrscheinlich dieselbe Person waren. Ein weiteres Indiz für diese Vermutung ist, dass Matsumura bei Chinto aus Annan gelernt haben soll. Die These, dass Kata nach der Herkunft ihrer Wurzeln benannt wurden, lässt sich auch hier anwenden. Annan (Ang’An) liegt nicht weit von Ping’An entfernt. Und möglicherweise hat Itosu nicht alle wesentlichen Elemente der Channan in die Pinan übernehmen können, weshalb er daneben die Annan schuf. Aus dieser könnte sich die spätere Ananku ableiten.

„Die Channan kennen wir heute nicht mehr. Und auch keine Pinan, die so lang ist, wie die Suparimpei, sondern 5 wesentlich kürzere. Wer hat denn die zerschnippelt??“

Der Itosu war’s!

Ab 1901 begann Itosu, Karate (To-te) für den Schulunterricht verwendbar zu machen. Ab 1905 lehrte er als Teilzeitlehrer an der ersten Junior High School der Präfektur Okinawa. In dieser Zeit entwickelte er aus der Pinan die fünf Kata, die man noch heute unterrichtet. Weitgehend sogar in der damaligen Fassung. Einerseits, um den Schülern die Kräftigung des Körpers und das Erlernen der Techniken zu erleichtern. Um andererseits aber nicht sofort die Geheimnisse der Kampfkunst zu vermitteln. Das war weiterhin nur ausgewählten Schülern vorbehalten, die sich als würdig erwiesen hatten. 

Mabuni Kenwa spielt nicht mit

Im Laufe der Zeit wurde von Itosus Schülern das Fünf-Pinan-Prinzip weiterhin benutzt, während ihre Herkunft in der Zeit versank. Einige Schüler Itosus und seiner Schüler entwickelten aus dem, was sie von den Ur-Kata noch erlernt hatten, eigene Variationen. Darunter Kata wie die Myojo und die Fukyugata Ichi oder die Ten no Kata.

Im Shindo Jinen Ryu/Ryubo-Kai und im Shotokan wurden die vereinfachten und gekürzten fünf Pinan/Heian-Kata noch weiter vereinfacht und die Tai Sabaki Shodan bis Sandan (Shindo Jinen) bzw. Taikyoku (Shotokan) daraus entwickelt.

Der einzige Ausreißer in diesem Immer-einfacher-Karussel war der Stilbegründer des Shito Ryu, Mabuni Kenwa. Er entwickelte die Shiho Kosokun, die sich an der originalen Kushanku orientierte, die er von Itosu als Uchi-Deshi gelernt hat.

Jetzt haben wir uns also durch 3 Jahrhunderte Karate-Geschichte gewühlt und aufgedeckt, warum so viele verschiedene Kata sich in mehr oder weniger großen Teilen ähneln. Alles klar?

„Nix ist klar! Wer soll denn da durchsehen?“

Okay, Zeit für meine Kritzeleien:

Der Stammbaum der Pinan Kata.
Stammbaum der Pinan-Kata. Eingerahmt die Personen, Kursiv die Kata

Ich hoffe, mit dem Bild konnte ich es nun etwas verdeutlichen und entschuldige mich aufrichtig für den trockenen Geschichtsstoff. Die nächsten Artikel werden wieder in der gewohnten Form erscheinen.
Als Entschädigung – und weil’s natürlich auch zum Thema passt – hier die „Queen of Kata“. Die japanische Nationaltrainerin Usami Rika mit der Chatan Yara Kusanku:

Usami Rika demonstriert die Chatan Yara Kusanku, eine Verwandte der Pinan
Usami Rika, JKA

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