12 Karate-Mythen aufgedeckt
Im Laufe der Zeit haben sich viele Karate-Mythen in unseren Köpfen festgesetzt. Heute werden wir mal einigen von ihnen auf den Zahn fühlen. Spielen wir mal…

1. Mythos: „Die Wurzeln des Karate liegen in China.“
Der Mythos besagt, dass chinesische Kaufleute und Diplomaten den Kung Fu-Stil des Weißen Kranichs (White Crane, Chuan’Fa) aus Südchina ins Königreich Ryukyu (heute Okinawa) brachten, wo er von den Einheimischen übernommen und zum heutigen Karate weiterentwickelt wurde.
Was sagt die Geschichte dazu?
In George H. Kerrs Buch „Okinawa: The History of an Island People“ ist zu lesen, dass im frühen 15. Jahrhundert bereits so enge Beziehungen zwischen Ryukyu und Siam (heute Thailand) bestanden, dass König Chuzan mit dem König von Siam einen regen Briefwechsel hatte. Weiterhin ist zu lesen, dass bereits seit mindestens 146 Jahren ein reger Handelsverkehr zwischen Ryukyu und Siam bestand mit 58 bis heute nachweisbaren Schiffsreisen nach Siam und wahrscheinlich hunderten mehr, die nicht mehr historisch nachzuvollziehen sind.
Wir wissen, dass China (Tang) und Ryukyu regen Handel hatten, wodurch auch Chuan’Fa bis Ryukyu kam. Nichts spricht dagegen, dass dasselbe bereits vorher mit Muay Thai (Thaiboxen) passierte. Ganz im Gegenteil.
Kerr beschreibt in seinem Buch weiterhin, dass ein reger Kulturaustausch zwischen Ryukyu und Siam bestand, wozu auch Sportaktivitäten gehörten, hier setzt er in Klammern auf Seite 217 seines Buches explizit auch Karate als heutigen Begriff des aus Siam eingeführten Boxens ein.
Also:
Dem späteren Artikel „Geschichte des Karate“ vorgreifend, kann man also kurz zusammenfassen, dass sich bis zum 15. Jahrhundert das siamesische Boxen, genannt Muay Thai und sein waffenloser Teil Muay Boran, durch jahrhundertelange Beziehungen mit Siam auf Ryukyu verbreitete und zu den „indigenen“ Kampfkünsten entwickelte, die sich nach Aufnahme der Beziehungen zu China mit dem Chuan’Fa vermischten und zum Ti, der Urform des Karate, weiterentwickelt wurden.
Kung Fu hat einen großen Beitrag zur Entwicklung des heutigen Karate geleistet, vor allem durch die Übernahme der Formen (Kata), jedoch sprechen die bevorzugt geschlossenen Fäuste des Karate und Muay Thai gegenüber den bevorzugt offenen Händen des Kung Fu für die Wurzeln der indigenen okinawanischen Kampfkünste im heutigen Thailand.
Der Mythos, dass Kung Fu direkt zu Karate weiterentwickelt wurde, ist also

2. Mythos: „Karate entstand als Geheimkampfkunst, um sich gegen randalierende Samurai-Besatzer aus Satsuma zu wehren, welche das Tragen von Waffen verboten hatten.“
Parallel dazu gibt es die Behauptung, dass bereits der König von Ryukyu das Tragen von Waffen aller Art verboten hatte, was die Einnahme Ryukyu’s durch die Satsuma-Samurai so leicht machte.
Beiden Behauptungen gemeinsam ist, dass das Tragen von Waffen auf Okinawa verboten war und sich die Bauern und Arbeiter den plünderten Samurai wehrlos gegenübersahen und daher eine waffenlose, geheime Kampfkunst entwickelten.
Hier finden wir gleich zwei Aussagen, die wir unabhängig voneinander betrachten wollen.
- Karate entstand im Geheimen, weil Waffen verboten waren.
- Karate wurde von Bauern, Tagelöhnern, Handwerkern, also der Arbeiterklasse entwickelt.
Die Geschichte des Karate, wie sie von Funakoshi und Higaonna weitergegeben wurde, basiert nach derzeitigem Stand der Dinge wahrscheinlich auf einem Missverständnis. Andreas Quast hat sich der Geschichte angenommen und in seinem Buch „Karate 1.0“ dazu geschrieben, dass im Jahr 1670 ein Erlass zum Schutz der Zivilbevölkerung erlassen wurde, der es verboten hat, sich nachts vermummt und bewaffnet durch die Straßen zu bewegen, da dies als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit angesehen wurde.
Das heißt:
Es war also ab 1670 verboten, sich mit (sichtbaren) Waffen und vermummt auf die Straße zu begeben, dies allerdings nur nachts, tagsüber war sogar das erlaubt.
Die weit verbreiteter bekannte Geschichte weiß zu berichten, dass die Annexion Ryukyus durch die Satsuma-Samurai bereits 1609 erfolgte. Das erste Waffenverbot überhaupt wurde also erst 61 Jahre danach erlassen. Es konnte nur im Interesse der Samurai sein, die Bevölkerung von Ryukyu bewaffnet zu lassen, denn die Satsuma hatten die Sicherheitszuständigkeiten klar aufgeteilt: Die äußere Sicherheit, wie die Verteidigung gegen Aggressoren oder Piraten, war Aufgabe der Satsuma, die innere Sicherheit, wie die Polizeigewalt und die öffentliche Ordnung oblag den Ryukyu-Behörden. Es konnte also nur im besten Interesse der Satsuma sein, dass die Sicherheitsorgane Ryukyus auch bewaffnet waren.
Der Mythos, dass das Tragen von Waffen auf Okinawa verboten war und deshalb Karate im Geheimen entwickelt wurde, ist

Teil 2: Wer hat’s erfunden? Jedenfalls nicht die Schweizer.
Der Mythos besagt, dass Karate von Arbeitern und Bauern entwickelt wurde, um sich gegen marodierende Besatzer zu wehren.
Stellen wir uns nun einmal vor, wir wären ein Bauer im 17. Jahrhundert auf Okinawa. Verzeihung, Ryukyu natürlich. Wir arbeiten von früh bis spät auf den Reisfeldern und versuchen irgendwie, damit über die Runden zu kommen. Spätabends schleppen wir uns in unsere Hütte und wollen nur noch eins: Schlafen! Und essen natürlich.

Ist es denkbar, dass man als Bauer, der von morgens bis abends auf dem Feld ist, der in seiner wenigen „freien“ Zeit noch sein Haus in Schuss und die Familie satt halten soll, irgendwo auch noch Schlaf, Essen und gelegentlich mal etwas Sauberkeit in seine Tagesplanung einbauen muss, noch die geringste Lust hat, sich einem harten körperlichen Training zu unterziehen? Nur, wenn’s sein muss.
Muss das sein? Was hat ein Bauer an Reichtümern und Schätzen in seiner Lendenschurz versteckt? Schmerzlich wenig. Ein vorbeiziehender Samurai hätte nicht die geringste Motivation, einen Bauern auszurauben und sein Hab und Gut zu plündern, denn schon, was der Samurai am Leibe trug, war ein Vielfaches von allem wert, was er hätte finden können.
Ist das realistisch?
Schauen wir uns nun einmal an, welche Art von Leuten sich möglicherweise des nachts in den Straßen von Tomari und anderen Städten herumtrieben, nehmen wir der Einfachheit halber in unserer Vorstellung noch an, diese Person sei leicht angetrunken und hätte Geld in den Taschen. Jemand, der den ganzen Tag körperlich arbeitet und am nächsten Tag wieder früh aufs Feld muss? Unwahrscheinlich. Jemand, der in privilegierter Position sitzt, Angestellte hat, vielleicht sogar noch über 3 Ecken und 4 Kanten mit dem Königshaus verwandt, verschwägert oder verbandelt ist? Da kommen wir der Sache schon näher. Wir können also erstmal getrost davon ausgehen, dass diejenigen, die überhaupt einen objektiven Grund hatten, sich gegen Räuber und Banditen zu wehren, zwei Dinge haben mussten:
- Etwas, das man stehlen konnte, also Geld oder wertvolle Besitztümer, edle Kleidung, Schmuck und dergleichen.
- Zeit, um sich überhaupt an Orten herumzutreiben, wo man bestohlen werden konnte.
Beides etwas, das auf unseren armen überarbeiteten Bauern nicht zutrifft.
Wir kommen also zu dem Schluss, dass die Erfinder von Karate wahrscheinlich keine Arbeiter und Bauern waren, sondern gebildete und gutsituierte Menschen aus gehobeneren Kreisen.
Doch wie beweisen wir das? Gar nicht mal so schwierig, wir schauen uns nämlich die bekannten großen Meister aus Ryukyu an und schauen, was sie von Beruf waren: Eine Auswahl großer Meister nach ihrem Geburtsjahr sortiert, mit entsprechendem Adelstitel dahinter:
- Chikin Seionori (1624-unbekannt): Oyakata-Klasse, höchster Rang der okinawanischen Samurai
- Chatan Yara (1740-1812): Chikudon Peichin, Junior-Peichin-Rang, Peichin ist die höchste Stufe des bürgerlichen Adels
- Soeishi Ryotoku (1772-1825): Oyakata, Sekretär des Königs
- Sakugawa Kanga (1786-1867): Chikudon Peichin
- Higa Kanematsu (1790-1870): Peichin, nächsthöherer über dem Chikudon Peichin
- Chinen Umikana (1797-1881): Chikudon Peichin
- Matsumura Sokon (1809-1899): Peichin, Leibgarde des Königs
- Tawata Shinboku (1814-1884): Chikudon Peichin
- Kyan Chofu (1835-1889): Shizoku, Kriegerfamilie
- Chinen Masanra (1842-1925): Chikudon Peichin
- Hamahiga Oyakata (1847 – unbekannt): Oyakata
Die Liste ließe sich noch sehr weit fortführen, soll jedoch als Überblick hier mal genügen.
Und das führt zu:
Wir sehen also, die großen Namen des Karate sind nicht nur reich genug gewesen, um sich überhaupt die Bildungsreisen nach China leisten zu können und sinnvolle Gesprächspartner für chinesische Handelsreisende und Diplomaten zu sein, von denen der Kung Fu-Einfluss auf Karate stammt, sie gehörten auch noch zum Who-is-Who des okinawanischen Adels. Karate wurde von Bauern entwickelt?

Aus derselben Richtung stammt unser
3. Mythos: „Karate ist waffenloses Kämpfen.“
Der Mythos besagt, meist im Duett mit dem Waffenverbotsmythos weiter oben, Karate wäre ein Kampfstil, der komplett ohne Waffen auskommt und sogar für den waffenlosen Kampf entwickelt wurde.
Wie kommt man denn auf so was? Selbst, wenn man annehmen würde, dass es irgendein Verbot von Waffen aller Art gegeben hätte und am Dorfbrunnen ein Messer zum Schneiden angekettet gewesen wäre, das sich alle Dorfbewohner hätten teilen müssen… Irgendein Stock oder Stein liegt immer rum, mit dem man sich notfalls verteidigen kann!
Aber gut, schauen wir in die Geschichte des Karate, gehen wir wieder nach Okinawa. Viele große Enthusiasten sind bereits dorthin gereist und haben ein Wort mitgebracht, das man hierzulande kaum noch kennt: Kobudo. Der bewaffnete Kampf. In Okinawa gehört zu jedem Karate-Dojo auch ein Arsenal an Waffen, wie Bo, Sai, Nunchaku, Schwerter und so weiter. Diese Waffen sind keine Ausstellungsstücke oder Dekoration, sie werden benutzt! Bestandteil des Karate war seit frühester Geschichte immer schon der bewaffnete Kampf, das Kobudo.

Wo ist das Kobudo abgeblieben?
Doch warum gibt es das heute nicht mehr? Warum werden bei uns keine Waffentechniken mehr vermittelt? Die Gründe sind vielfältig und liegen in unserer Kultur. So ist in sehr vielen westlichen Ländern der Nunchaku gesetzlich verboten. In Deutschland ist er behördlich als sogenanntes „Würgeholz“ bezeichnet und nach Paragraf 2, Absatz 3 in Verbindung mit Anlage 2, Abschnitt 1, Punkt 1.3.8 ausdrücklich als Nunchaku genannt verboten. (Zitierform: §2 (3) i.V.m. Anl. 2, Abschn. 1, Pkt. 1.3.8 WaffG) Auch Wurfsterne sind verboten sowie ein guter Teil des weiteren Kobudo-Arsenals, was die Waffenkünste des Karate ad absurdum führte. Schließlich führte Karate in vielen Einführungsgebieten zunächst ein Schattendasein und war Sportvereinen oder Judo-Clubs angeschlossen, was in Gesamtheit dazu führte, dass man in der westlichen Welt die Waffenkünste des Karate heute fast gar nicht mehr kennt.
Waffen gehörten von Anfang an zum Karate dazu. Was Karate, die leere Hand, nun wirklich bedeutet, dazu wird es später einen ausführlichen Artikel geben. Der Mythos, dass Karate waffenlos sei, ist jedenfalls

Rechtliche Vorschriften sind ja ein gern genutztes Gesprächsthema. So sind auch die nächsten beiden Mythen aus dieser Kategorie:
4. Mythos: „Bevor man sich mit Karate verteidigen darf, muss man den Angreifer warnen, dass man Karate kann.“
und
5. Mythos: „Wenn man den schwarzen Gürtel hat, muss man seine Hände und Füße als tödliche Waffen registrieren lassen.“
Stellen wir uns folgende Situation vor: Blaulicht, Sirene, ziemlich matschiger Mensch am Boden, blutüberströmt und irgendwo in diesem Brei ist jemand, den wir als einen erfahrenen Karate-Meister kennen. Zwischen Notarzt und Sani fragen wir ihn: „Warum hast du dich denn nicht gewehrt?“
Seine Antwort: „Ich hatte keine Zeit mehr, ihn zu warnen, dass ich Karate kann, ich durfte mich nicht wehren.“What the …? Eine ausführliche Google-Recherche von ca. 10 Sekunden ergab, dass es kein Karate-Gesetz gibt. Nirgends. Nicht in Deutschland, nicht in der Schweiz oder in Österreich, nicht in den USA (erstaunlich), nicht einmal in Japan.
Bleiben uns also noch das Strafrecht und das Waffenrecht. Im Strafrecht gibt uns der Paragraf 32 des Strafgesetzbuchs den schönen Begriff „Notwehr“ auf den Weg. Was steht denn da schönes:
§ 32 Notwehr
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
Aha, Notwehr ist also die notwendige (sic!) Verteidigung, um einen Angriff abzuwehren.
Mehr noch: Wir dürfen also mit Karate nicht nur uns selbst, sondern auch andere verteidigen!
„Aber ist die Anwendung von Karate nicht eine Überschreitung der Notwehr?“
Möglicherweise, da wir wissen, was unsere Angriffe anrichten können. Allerdings besteht zwischen einem gutbehüteten, gepolsterten Dojo und der harten Realität auf der Straße ein großer Unterschied und der sorgt für Adrenalin! Wenden wir also aus Angst etwas an, was wir bei ruhigem Überdenken nicht getan hätten, haben wir die Notwehr überschritten.

Was sagt das Gesetz hierzu?
§ 33 Überschreitung der Notwehr
Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.
Auch das ist nicht strafbar, wenn es im Rahmen liegt, wir also dem Angreifer nicht größeren Schaden zufügen, als dieser dem Opfer zugefügt hätte, denn egal, wie sehr wir uns vorbereitet glauben, kein Hufeisen ist so hart, wie die Realität. Die Notstandsregelungen aus §§ 34 und 35 StGB stützen uns auch noch, wenn unser Überschreiten der Notwehr nicht schwerer wiegt, als der Schaden, der dem Opfer bei Untätigkeit entstanden wäre. Wie steht es damit nun? Angenommen, wir sind leicht übers Ziel hinausgeschossen, haben wir es nun sofort und automatisch übertrieben, weil wir mit 4 unregistrierten tödlichen Waffen rumrennen, nämlich Händen und Füßen? Für den dritten Mythos hatten wir das Waffengesetz ja schonmal auf und die Liste aller darin aufgelisteten Waffen durchgelesen, Körperteile waren nicht dabei.
Weder das Strafrecht noch das Waffenrecht geben hier irgendeinen Hinweis, woher das mit dem angeblichen Registrieren kommt. Beide Mythen sind

Wie war das eben, egal, wie gut wir vorbereitet sind… Nächster Mythos:
6. Mythos: „Was wir im Dojo üben, können wir 1:1 auf der Straße anwenden.“
So bequem macht man es uns meistens nicht. Der Angreifer ist aufgeregt, hat noch etwas Blut im Adrenalin, er kommt selten aus genau der Richtung, aus der unser Trainingspartner immer kam und vor allem: Er wird mit Sicherheit mit exakt einer Technik definitiv NICHT angreifen, mit der, die unser Trainingspartner benutzt hat!
„Warum lernen wir das dann, wenn wir es sowieso nicht verwenden können?!?“
Wir üben zwar konkrete Techniken, aber lernen dabei die grundlegenen Prinzipien der Selbstverteidigung. Was wir lernen sollen, ist nicht „Okay, die Hand dahin, den Fuß dahin und dann das und das und das“, sondern vielfältige verschiedene Methoden, die alle funktionieren können, wenn wir Glück haben. Ziel ist es, dass wir ohne groß nachzudenken im Ernstfall mehrere Möglichkeiten zur Verfügung haben, die wir notfalls alle nacheinander rausschießen, ganz nach dem Motto „Irgendwas wird schon was bringen!“.
Ein Bisschen Detail:
Etwas genauer betrachten wir beispielhaft mal die Befreiung aus dem Festhalten. Angenommen, wir haben Griffe ans Handgelenk und Griffe ans Revers geübt, jetzt kommt einer und greift unseren Oberarm, was tun? Jetzt greift das Bunkai-Prinzip wieder, dass wir vor allem nicht einfach hilflos dastehen, sondern aus all dem, was wir mal geübt haben, das Wissen ziehen, es gibt Befreiungsmöglichkeiten, die besser sind, als verzweifeltes Zotteln am Gegner.
Platt machen, lebt!
„Er greift meinen linken Arm, okay… Moment, da ist noch einer, was ist das? Aha, mein rechter Arm, wo kommst du denn her? Egal, dich nutz ich. Erstmal versuchen, loszureißen. Geht nicht, war ja klar. Ey, was’n das? Oh, da unten hat er ein Bein, klopp ich mal meinen Fuß gegen sein Schienbein, dann die rechte Faust mit Karacho auf seinen Oberam. Nanu? Ich bin ja frei!“ Geübt hat man das so wahrscheinlich nicht. Aber die Möglichkeiten, die hatten wir in anderen Übungen und haben sie übertragen und das ist der Sinn dieser Übungen. Die gelernten Techniken 1-zu-1 zu übertragen, funktioniert so gut wie nie. Und selbst, wenn wir jede denkbare Situation üben, im Ernstfall ist es dann wahrscheinlich eine undenkbare, die wir, unsere Mitschüler und sogar unsere Trainer sich nicht vorgestellt haben.
Dass man also stur Bewegungsabläufe abspeichern und sie ohne Nachdenken abspulen kann, ist

Nehmen wir uns gleich mal zwei sehr beliebte Verteidigungsmythen zur Brust:
7. Mythos: „Von unten auf die Nase schlagen treibt den Knochen ins Gehirn und ist potenziell tödlich.“
Legt mal einen Finger auf die Nase. Jetzt drückt leicht. Nun drückt zur einen Seite. Jetzt zur anderen. Ziemlich weich für einen Knochen, oder?
Mancher mag jetzt denken, dass dahinter ja der Knochen ist, das feste merkt man ja. Okay: Nehmt mal euren Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger. Schiebt leicht nach links, dann leicht nach rechts. Geht. Das ist Knorpel, weiches Material, das sich nicht so recht entscheiden konnte, ob es Knochen oder Gelee wird. Knorpel ist das Gewebe, das flexiblen Körperteilen eine Form gibt. Schauen wir uns jetzt noch mal dieses freundliche Lächeln hier an:

Betrachten wir mal den Nasen-„Knochen“. Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.
Durch einen Schlag von unten auf die Nase, kann man diese sehr ansehnlich unansehnlich gestalten und vortrefflich deformieren, was dem Angreifer die Zwiebeltränen in die Augen treibt. Dadurch wird es zu einer relativ guten Verteidigungstechnik, auch wenn wir Angriffe auf das Gesicht lieber vermeiden wollen. Eins jedenfalls geht nicht: Einen Knochen durch die (ziemlich dicke) Schädeldecke zu rammen, der gar nicht da ist.

8. Mythos: „Die beste Verteidigung gegen Männer ist die Nussknackersuite.“
Heißes Eisen. Es gibt durchaus Situationen, in denen Mann von schmerzenden Edelsteinen handlungsunfähig gemacht wird. Diese Situationen entstehen jedoch unerwartet und unvorbereitet, also in der Regel als Unfall. Wenn ein Mann jedoch eine Frau oder ein Kind angreift, rechnet er mit Widerstand. Hier gibt es zwei Möglichkeiten, die weit häufiger eintreten, als Paralyse, wenn der Verteidiger dem Mann zwischen die Beine tritt oder schlägt: Entweder er realisiert das gar nicht bzw. erst im Nachhinein, weil sein Adrenalin seine Schmerzrezeptoren gedämpft hat. Oder der plötzliche Schmerz lässt die letzten Reste von Verstand und Selbsterhaltungstrieb über Bord gehen und der Angreifer wird zum Berserker.

In beiden Fällen haben wir mit einem Tritt in die Weichteile nichts Gutes bewirkt, im zweiten Fall sogar die Selbstverteidigung nahezu unmöglich gemacht und uns von einer Gefahr für die körperliche Unversertheit in eine Gefahr für unser Leben manövriert. Gerade bei versuchten Sexualdelikten sind Angriffe auf die „Tatwaffe“ zum Einen eher noch stimulierend und zum Anderen gefahrensteigernd. Jemandem diesen Angriff als Verteidigungsmaßnahmen beizubringen ist demnach sogar in höchstem Maße fahrlässig, denn dieser Mythos ist

9. Mythos: „Im Karate gibt es nur Schläge und Tritte, Blöcke und Ellbogenschläge.“
Ich bin nicht ganz sicher, ob das ein Mythos oder sogar ein Vorurteil ist, jedoch geht es in dieselbe Richtung, wie der Waffenmythos. Nur, weil viele Schulen es nicht mehr lehren (ich frage mich manchmal, wie viele der Trainer in solchen McDojos die Techniken überhaupt kennen), heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.
Karate ist eine holistische Kampfkunst, eine Kampfkunst also, die ganzheitlich in allen Richtungen entwickelt wurde, die es damals gab. Karate ist eigentlich sogar die Urform von MMA, denn die alten Meister haben wirklich alles mögliche zusammengemischt.
Was gibt es außer Schlägen und Tritten also noch:
- Bodenkampftechniken
- Griffe (Grappling)
- Hebel (Locks, Joint-Locks)
- Würfe (Throws)
- Fegetechniken (wie den Ashi-Barai)
- Sprungtechniken (wie Tobi-Geri)
- Druckpunkttechniken (Pressure Points, Kyusho-Jutsu, Atemi-Te)
- Waffenkampf, wie wir weiter oben schon sehen konnten
Das alles inklusive Abwehr- und Fallschule und sicherlich noch weiteren Dingen, die mir nur gerade nicht einfallen, sind ebenfalls Bestandteile von Karate.
Nur Schläge und Tritte?

10. Mythos: „Je größer die Muskeln eines Kämpfers sind, umso langsamer ist er.“
Wo auch immer das herkommt, schauen wir uns einfach mal die Stars der Martial Arts Movies an. Jackie Chan hatte in den Filmen, die im historischen China spielten, Muskeln, die manchen Fitnessstudio-Besucher neidisch machen würden. Jean-Claude Van-Damme nannte sich selbst „The Muscels from Brussels“, Bruce Lee konnte mit seinen Muskeln Figuren machen, Bolo… ist Bolo.

Sie alle zeigten nicht nur Power und Stil, sondern auch Geschwindigkeit. Etwas anderes ist es hingegen beim Thema Ausdauer. Wer nur die Muskeln trainiert, jedoch den Kreislauf und die Ausdauer vernachlässigt, kann so stark sein, wie er will, er hält keinen Kampf lange durch. Aber Geschwindigkeit kommt von Kraft. Inzwischen gibt es in vielen Schulen auch ein dementsprechendes Neu- und Umdenken und das Crosstraining wird wieder stärker gefördert. Muskelaufbau, Muskeldefinition und Flexibilität zusammen bringen den Kämpfer voran.
Muskeln ermüden, je größer der Muskel ist, umso mehr Sauerstoff und Zucker verbrennt er bei Belastung und umso schneller wird man müde, wenn die Versorgung hinterherhinkt. Aber Muskeln machen per se nicht langsam.

11. Mythos: „Der beste Karatestil ist…“
Meistens fügt man hier den eigenen Stil an. Fakt ist jedoch, es gibt keinen besten Karatestil, sie alle sind gleichsam gut, sonst hätten sie nicht bis in die heutige Zeit überdauert. Wie gut man in seinem Karatestil wird, hängt von vielen Faktoren ab, niemals jedoch vom Stil selbst, denn das Potenzial, Weltmeister oder Killermaschinen hervorzubringen, haben sie alle.
Eine längst nicht vollständige Liste der Faktoren:
- Der Trainer. Wie gut der eigene Trainer als Trainer (nicht unbedingt als Kampfkünstler, Turnierteilnehmer oder sonstwas, sondern als Lehrer) ist, bestimmt, wie gut man werden kann.
- Der Schüler. Die eigenen Voraussetzungen, Talent, Fitness, Hingabe, Intelligenz, Merkfähigkeit, Mitdenken, Reife, … und so weiter.
- Das Dojo. In einem gut ausgerüsteten Dojo mit Pratzen, Makiwara, Spiegeln usw. zu trainieren, hat Vorteile gegenüber dem Training in einer kalten, feuchten Kellernische, deren durchlöcherter Betonboden die Gelenke zerfetzt.
- Die Mitschüler. Macht das Training in der Gruppe Spaß oder herrscht Zickenkrieg? Lernen alle gemeinsam oder jeder für sich?
- Das Umfeld. Wird die Schule gefördert oder steht sie kurz vor dem Abgrund? Erhält man Unterstützung in dem, was man tut oder muss man sich gar dafür rechtfertigen?
Die Liste lässt sich nahezu endlos fortsetzen, gibt aber schon einen kleinen Einblick darin, was wirklich entscheidend ist für die Frage, ob man zur Weltspitze oder zum untersten Ende der Karate-Nahrungskette gehört.
Jedem Stil ist das Potenzial inne, Meister und Champions hervorzubringen. Der beste Karatestil ist also ein Mythos und dieser ist

12. Mythos: „Die Gürtel haben eine tiefgehende Bedeutung, allen voran der schwarze Gürtel.“
Was es bedeutet, Schwarzgurt zu sein, habe ich an anderer Stelle schon ausführlich erörtert. Man kann es analog auf die Farbgurte übertragen.
Hätten die bunten Gürtel eine tiefgreifende, grundlegende Bedeutung, wären sie zum Einen in allen Stilen identisch. Farben, die nicht alle Stile haben, sind beispielsweise der rote Gürtel (als Graduierung, nicht auf Wettkämpfe bezogen), der violette Gürtel, der rot-weiße Gürtel, andere Kombinationen wie weiß-gelb, weiß-orange, weiß-grün, weiß-blau oder Kombinationen aus zwei Farben. Wie kann etwas von grundlegender Bedeutung sein, das nicht überall gleich ist, das teilweise nicht mal überall existiert?
Und der Sinn ist:
Der Nutzen der Gürtelfarben besteht darin, innerhalb einer Schule oder eines Stils den Ausbildern einen Hinweis zu geben, wie weit der Schüler bereits ungefähr ist. Welches Wissen und welches Können man bei ihm als gegeben voraussetzen können sollte. Dafür wurden die bunten Gürtel vom Judo übernommen, in analoger Anwendung der Bedeutung von Klassenstufen in Schulen. Aber eine tiefgehende Bedeutung besitzen sie nicht. Nur der schwarze, der bedeutet „Train your a.. off to keep it!“

Habt Ihr Fragen, Hinweise, andere Kommentare oder sind Euch schonmal Mythen über den Weg gelaufen, denen Ihr gern mal auf den Zahn fühlen wollt? Schreibt mir Eure Meinungen und Kommentare und vergesst nicht: Teilen ist wichtig! Für das Wissen, das vermehrt werden will und für den Autor, der sehen will, dass seine Mühen überhaupt gelesen werden. Glaubt nicht alles, hinterfragt, denkt mit, Karate ist dynamisch, so solltet auch Ihr sein!
